Die Unschuldsvermutung ist ein juristisches Prinzip. Es verpflichtet den Staat, einen Menschen erst dann zu bestrafen, wenn seine Schuld nachgewiesen ist, und schützt vor voreiligen staatlichen Eingriffen. Im öffentlichen Raum allerdings wirkt dieses Prinzip anders. Denn am Ende zählen nicht nur Formulare und Paragraphen.

Der Fall Jerome Boateng führt diese Spannung deutlich vor Augen. Drei Richter haben ihn wegen Körperverletzung an der Mutter seiner Kinder schuldig gesprochen. Parallel dazu gibt es den Fall um Kasia Lenhardt, in dem zwar kein Urteil gefällt wurde, das Verfahren jedoch eingestellt wurde, weil die zentrale Zeugin tot war. Trotzdem wurde in der öffentlichen Debatte immer wieder auf die „Unschuldsvermutung“ verwiesen.

Letzte Woche veröffentlichte die ARD eine dreiteilige Dokumentation, die Boatengs Geschichte, seine Karriere und seinen Absturz beleuchtet und ein Millionenpublikum erreichte. In dieser SLALOM-Ausgabe schauen wir genau hin: Was erzählt die Doku über Boateng? Wie werden seine Taten eingeordnet? Und welche Fragen bleiben offen? Außerdem liefern wir euch in unserer Sechserkette wieder neuen Zündstoff.

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SLALOM-Sechserkette

In der heutigen SLALOM-Sechserkette geht es um Spieler, deren Karrieren untrennbar mit Gewalt gegen Frauen verbunden sind. Die Fälle sind unterschiedlich, doch sie zeigen alle, wie bereitwillig die Gesellschaft wegsieht, wenn große Namen im Spiel sind.

  1. Robinho

    Robinho galt in den 2000ern als eines der prägendsten Gesichter des brasilianischen Fußballs und spielte für Real Madrid, Manchester City und Milan. 2017 wurde er in Italien wegen Beteiligung an einer Gruppenvergewaltigung verurteilt. Die neunjährige Haftstrafe wurde 2024 in Brasilien zur Vollstreckung anerkannt. Er sitzt inzwischen im Gefängnis in São Paulo.

  2. Mason Greenwood

    Greenwood war eines der größten Talente Englands und gehörte bei Manchester United früh zur Stammformation. 2022 wurden nach Veröffentlichungen von Bild- und Tonmaterial schwere Gewaltvorwürfe gegen ihn erhoben. Die britische Justiz stellte das Verfahren 2023 ein, weil zentrale Zeugen ihre Aussagen zurückzogen. Greenwood lebt wieder mit seiner Partnerin zusammen und hat ein gemeinsames Kind. Er ist inzwischen für Olympique Marseille aktiv.

  3. Nico Schulz

    Schulz war deutscher Nationalspieler und spielte für Hoffenheim und Borussia Dortmund. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, seine damalige (schwangere) Partnerin 2020 mehrfach körperlich angegriffen zu haben. Nach verweigerter Aussage im Verfahren und einer Zahlung im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs wurde das Verfahren eingestellt. Schulz ist seit 2023 ohne Verein.

  4. Lucas Hernandez

    Hernández ist Weltmeister von 2018 und langjähriger Stammspieler im französischen Nationalteam. 2017 wurde er wegen Gewalt in der Beziehung verurteilt, später wegen Missachtung eines Kontaktverbots erneut belangt und 2019 zu einer Haftstrafe verurteilt, die 2021 in eine Geldstrafe umgewandelt wurde. Er steht weiterhin bei Paris Saint-Germain unter Vertrag.

  5. Dani Alves

    Dani Alves zählt zu den dekoriertesten Spielern der Fußballgeschichte und gewann nahezu jeden wichtigen Titel. 2023 wurde er in Spanien wegen eines sexuellen Übergriffs angeklagt, 2024 zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt und gegen Kaution freigelassen. Das Verfahren läuft weiter. Seine Karriere ist beendet.

  6. Cristiano Ronaldo

    Cristiano Ronaldo ist einer der erfolgreichsten Fußballer der Geschichte und globales Aushängeschild des Sports. 2009 wurde ihm eine Vergewaltigung vorgeworfen, die er bestreitet. Eine außergerichtliche Einigung führte zu einer Zahlung von 375.000 Dollar, später scheiterten sowohl strafrechtliche Ermittlungen als auch zivilrechtliche Klagen. Derzeit spielt er für Al-Nassr in Saudi-Arabien.

Eine letzte Kurve

Der Fall Boateng wird oft als komplex dargestellt, dabei ist er nicht schwer zu verstehen. Im Juli 2024 wurde er wegen vorsätzlicher Körperverletzung an der Mutter seiner Zwillinge schuldig gesprochen und zu einer Verwarnung mit Strafvorbehalt verurteilt. In der ARD-Doku taucht dieser Punkt erst im dritten Teil auf.

Auffällig ist vor allem, wer in der Doku nicht zu Wort kommt: keine ehemaligen Bayern-Mitspieler, keine investigativ arbeitende Redaktion, kein Kommentar seines Bruders Kevin-Prince, der sich öffentlich von ihm distanzierte. Stattdessen sprechen Journalisten von Bild, Brisant und Bunte oder Cathy Hummels. Was fehlt, sind kritische Fragen und eine klare Einordnung. Spätestens beim Stichwort Resozialisierung wird das sichtbar. Boateng ist weder isoliert noch gesellschaftlich ausgeschlossen, sondern ein reicher, berühmter Mann, der in einer Doku seine Version erzählen darf.

Hinzu kommt der Fall Kasia Lenhardt, der nur gestreift wird. Das Verfahren wurde eingestellt, weil die zentrale Zeugin verstorben war – nicht, weil Boateng entlastet wurde. Die Berufung auf die Unschuldsvermutung greift hier zu kurz.

Im Fußball gibt es bis heute keinen Konsens, wie mit Tätern und Vorwürfen umzugehen ist. Unsere Sechserkette liefert sechs weitere Beispiele. Die Reaktionen der Fans – „Keine Bühne für Täter“ – sind oft deutlicher als die Haltung der Medien. Der Fall Boateng hätte zeigen können, wie ernst Gewalt genommen wird. Stattdessen zeigt er, wie schnell der Fokus verrutscht. Die Debatte endet nicht mit dieser Doku. Sie beginnt dort, wo die Unschuldsvermutung endet und die gesellschaftliche Verurteilung vollzogen wird.

Danke, dass du SLALOM heute begleitet hast. Wir hoffen, die Kurve hat sich gelohnt.

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Bis nächsten Montag!

Dein SLALOM-Team

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